Die Beziehung zu deiner Mutter
Die Bedeutung der Mutter-Kind-Bindung
In meinem Verständnis ist die Mutter-Kind-Bindung von besonders hoher Bedeutung. Und das bereits, bevor du geboren wirst. Die vorgeburtlichen und die geburtlichen Erfahrungen tragen bereits zu der Bindung bei. Direkt nach deiner Geburt ist es wahrscheinlich deine Mutter, die dich als Neugeborenes als Erstes in den Armen hält. Die Mutter stellt in der Regel die primäre Bezugsperson dar.
Die Beziehung zu deiner Mutter kann sehr unterschiedlich sein und sich im Laufe der Zeit verändern.
Gründe dafür können beispielsweise ihre Gesundheit, Konflikte in der Pubertät oder Ähnliches sein.
Wie bei der Vater-Kind-Beziehung werde ich zunächst einige archetypische Mutterbilder erläutern und diesen dann wieder Namen geben: die traditionelle Mutter, die Karrierefrau und die Supermutter. Achtung: Diese Typen sind sehr generisch. Du und dein Leben sind individuell. Und so passt du das auf dich persönlich an. Auch hier liegt es wieder an dir selbst, für dich die Beziehung zu deiner Mutter zu definieren und in der Lernaufgabe #9 zu beschreiben.
Typische Mutterbilder
Das traditionelle Mutterbild
Das traditionelle Mutterbild ist klar: verheiratet, Hausfrau und Mutter. Ich nenne sie Claudia. Sie kleidet morgens die Kinder, bringt sie zur Schule und wartet nach der Schule mit dem Essen – sie kocht selbstverständlich, was den Kindern schmeckt. Die Versorgung und Erziehung der Kinder hat oberste Priorität.
Claudia ist oftmals mit dem Ernährer und Bestrafer Peter verheiratet, der wenig präsent ist im Familienalltag. Die gesamte Verantwortung für die körperliche, geistige und seelische Entwicklung lastet auf Claudia. Der Vater macht die Mutter auch gerne für „Fehlentwicklungen“ der Kin der verantwortlich. Hier besteht die Gefahr, dass Claudia zur Helikoptermutter wird – um sicherzustellen, dass dem Schützling nichts passieren kann. In der Beziehung zwischen der traditionellen Mutter und dem Kind herrscht wenig Distanz: Stattdessen herrschen Nähe und eine enge Bindung.
Erkennst du deine Mutter in diesem Bild? Vielleicht ist deine Mutter eine Art Claudia, die dich behütet und immer für dich verfügbar ist. Ist es vielleicht schwerer, dich von ihr abzunabeln? Ist sie vielleicht bereits eine Art Helikoptermutter, die stets über dich wacht? Wie wirkt sich dies auf dich aus? Und welchen Einfluss hat es auf deine Lebensentwicklung?
Die Karrierefrau
Die Karrierefrau – ich nenne sie nun Andrea – entspricht dem feministischen Gegenentwurf zu Claudia. Sie ist karriereorientiert. Obwohl Andrea Kinder möchte und sie selbstverständlich über alles liebt, hat es für sie nicht obere Priorität, jedes Pausenbrot selbst zu machen und den ganzen Tag mit den Kindern zu sein. Wie sie es beruflich gewohnt ist, wird sie alles managen. Wer sich wann um die Kinder kümmert und wann und wo sie mit den Kindern Zeit verbringt. Hier kümmert sich vielleicht der Vater, eine Tagesmutter oder auch die Großeltern um die Kinder. Andrea hat zu ihrem Kind ein distanzierteres Verhältnis als Claudia. Andrea wird von den anderen Frauen im Kindergarten vielleicht als Rabenmutter angesehen, die nur auf ihre Karriere aus ist. Doch das muss nicht sein. Denn für das Kind kommt es nicht nur darauf an, wie viel Zeit es mit der Mutter verbringt, sondern auch, wie diese verbracht wird. Liegt der Fokus hauptsächlich auf der Karriere und das Familienleben hat wenig Platz im Leben der Mutter, ist das Mutter-Kind-Verhältnis distanziert und es kann wenig Nähe aufgebaut werden.
Überdenke die Beziehung zu deiner Mutter: Hast du eine Andrea als Mutter? Wie würdest du deine Beziehung zu ihr beschreiben und welchen Einfluss hat dies auf eure Bindung? Herrscht zwischen euch Nähe oder Distanz?
Die Supermutter
Das dritte Mutterbild beschreibe ich anhand von Nicole: Die Supermutter versucht Hausfrau, Mutter und Karrierefrau in einer Person zu sein. Nicole möchte alles richtig machen und eine fürsorgliche und hingebungsvolle Mutter sein. Das schafft sie auch sicher. Mit Nicole als Mutter besteht meist ein Gleichgewicht zwischen Nähe und Distanz. Das Kind lernt, dass die Mutter selbstständig ist und arbeitet und dennoch alles Erdenkliche tut, um gemeinsame Zeit mit den Kindern zu verbringen. Doch am Ende kann es sehr ungesund für Nicole selbst sein, zu viele Rollen ausfüllen zu müssen. Im Gegensatz zu der Karrierefrau Andrea verzichtet sie auch auf Zeit für sich selbst. Und im Gegensatz zu Claudia möchte sie neben der perfekten Mutter auch noch ihren Beruf ausüben und selbstständig sein.
Nicole macht morgens alle Brote und die Obst Box fertig, bringt dich zur Schule und fährt schnell zur Arbeit, weil sie wie jeden Morgen mal wieder spät dran ist. Eigentlich arbeitet Nicole halbtags, was die Kolle gen ungern akzeptieren, versucht, alle Besprechungen abzuwickeln und muss sich dennoch alle Kommentare auf der Arbeit anhören, weil sie um 15 anstatt 12 Uhr dann tatsächlich gehen muss. Was sie danach wirklich bräuchte, wäre Zeit für sich.
Doch sie holt die Kinder von der Schule ab und fährt sie zur Klavierstunde, dem Reitunterricht und zum Fußballverein. Die Supermutter ist im Rollenkonflikt und überfordert im Umgang mit ihren Gefühlen, beziehungsweise ihrem schlechten Gewissen, wenn sie sich nur eine Stunde für sich selbst nimmt. Auf Dauer bewirkt dies das Gegenteil – zu viel Druck. Für Mutter und Kind. Vielleicht erkennst du hier auch deine eigene Mutter?
Wie sich die Beziehung verändern kann
Neben der traditionellen Mutter, der Karrierefrau und der Supermutter gibt es natürlich noch viele weitere. So viele unterschiedliche Faktoren spielen bei dem Mutter-Kind-Verhältnis eine Rolle. Die Scheidung deiner Eltern kann dazu führen, dass deine Mutter alleinerziehend ist. Vielleicht hast du heute ein anderes Bild deiner Mutter als damals: eher schwach und als die Person, der du auf der Nase herumtanzen kannst. Heute stellst du fest, dass sie es auf eine fast unmögliche Weise schaffte, ihre Kinder hauptsächlich allein oder schlussendlich alleinerziehend großzuziehen.
Das Verhältnis zwischen Mutter-Sohn und Mutter-Tochter kann sehr unterschiedlich sein. Die Mutter stellt für Mädchen möglicherweise eine Identifikationsfigur und unterbewusst auch eine Art Konkurrentin dar. Das kommt auch daher, dass die Menschen um dich herum dein Aussehen regelmäßig mit dem deiner Mutter verglichen. Ich bin mir sicher, dass dir dazu eine passende Situation in den Sinn kommt. Für den Jungen ist die Mutter die erste Frau im Leben und sie erfüllt die gegensätzlichen Aufgaben zum Vater. Der Begriff „Muttersöhnchen“ kommt häufig in dem Zusammenhang mit einer sehr engen Beziehung mit der Mutter auf. Diese ist aber häufig eine Belastung für Jungen und Männer. Die Abhängigkeit entsteht entgegen der gängigen Meinung meist nicht seitens des Sohnes, sondern der Mutter, die beispielsweise getrenntlebend ist und eine enge Bindung sucht.
Man kann auch Unterschiede im Alter einer Mutter betrachten. Ältere Mütter sind tendenziell etwas vorsichtiger und ängstlicher als Jüngere und übertragen dies automatisch auf dich als Kind. Dennoch heißt das nicht, dass eine junge Mutter dem Kind reine Sicherheit vermittelt. Eine junge Mutter, die sich getreu des Mottos „Ich tanze bis zum Morgengrau en“ verhält, kann ihrer Verantwortung gegebenenfalls nicht nachkommen.
In allen drei Rollen der Mutter kann ein zusätzlicher Faktor wie die Gesundheit Einfluss auf die Mutter-Kind-Beziehung haben: eine physische oder eine psychische Erkrankung der Mutter. Eine physische Erkrankung kann bedeuten, dass deine Mutter an deinem Leben nicht so teilhaben kann, wie sie es gerne möchte.
Spiegel deiner Gefühle
Als Kind brauchst du deine Mutter und deinen Vater zur Spiegelung deiner Gefühle. Psychische Erkrankungen wie eine Depression kann diese Spiegelung zur Gefahr machen: wenn deine Mutter manisch-depressiv ist, schaust du einmal in ein leeres Gesicht und einmal in ein sehr fröhliches. Stelle dir vor, du kommst gut gelaunt und fröhlich vom Spielen bei einem Freund. Du kommst die Tür rein und die Mutter weint. Als Kind denkst du automatisch, dass du etwas falsch machst – deine Mutter traurig machst. Dass deine Mutter aufgrund einer Krankheit traurig ist, verstehst du zu dem Zeitpunkt natürlich nicht. Aber automatisch spiegelst du ihr Gefühl und fühlst dich ebenso unwohl. Dasselbe passiert, wenn die Depression dazu führt, dass deine Mutter zehn Minuten später wieder herzhaft lacht. Du kannst dir nicht erklären, was passiert ist, aber du bist einfach froh, dass du sie nicht mehr traurig machst und freust dich auch.
Dies ist ein gestörtes Verhältnis zu Gefühlen, was auf deine weitere Entwicklung einen großen Einfluss hat. Du tust damit deiner Gefühlswelt nicht gut und kannst dich nicht gesund entwickeln. Stattdessen wartest du auf das Auf und Ab und kannst auch in allen deinen Beziehungen im späteren Leben schwer darauf vertrauen, dass alles okay ist. Du wartest an der nächsten Straßenecke auf Probleme und die Gefahren, die unbemerkt lauern.
Wenn ein Kind in dieser frühen Lebensphase misshandelt wird, hat das katastrophale Folgen. Leider ist hier die Dunkelziffer sehr hoch. Mir ist es wichtig zu sagen, dass es hier meiner Meinung nach nicht reicht, sich selbst helfen zu wollen. Stattdessen sollte man sich professionelle Hilfe suchen, um diese Erlebnisse strukturiert aufzuarbeiten und zu verarbeiten.
Depression und Sucht
Die Vernachlässigung der Mutter aufgrund von Depressionen oder Suchtverhalten führt wie beim Vater dazu, dass du als Kind bereits sehr früh die Aufgaben der Erwachsenenwelt übernimmst. Die Suche nach Liebe und Anerkennung führt dazu, dass gerade diese Kinder auch als Erwachsene meist sehr lang zu Hause wohnen und sich um die Familie kümmern, weil sie sich verantwortlich fühlen für das Wohl der anderen. Das Kind lernt, dass es zurückstecken muss für das Wohl der anderen. Das Loslassen dieser Verantwortung ist dann ein langer und schwieriger Prozess.
Wenn Kinder Superstars sind
Auch das Gegenteilige kann zum Problem werden: Die „Mein Kind macht sowas nicht“ - Mutter erklärt ihr Kind zum künftigen Superstar und behandelt es auch so. Das kann einen negativen Einfluss auf das Kind haben. Die Mutter räumt alle Probleme verbal aus der Welt. Das Kind lernt dabei, dass es mit Dingen durchkommt oder nicht. Das führt zu einem „falschen positiven Bild“ der Realität. Die Aufrechterhaltung dessen gelingt kaum außerhalb des Elternhauses und spätestens im ersten Job fällst du damit möglicherweise auf die Füße.
Mütter, die versuchen alles perfekt und noch besser zu machen, tun sich oft schwer – egal, in welcher Rolle sie sind. Der Zwang führt zu Irritationen und einer gestörten Selbstwahrnehmung. Werden für Einjährige bereits Geburtstagspartys größer als jede Hochzeit ausgerichtet, kannst du dir die Erwartungshaltung zum 18. Geburtstag vorstellen. Und nicht nur die Erwartungshaltung der Kinder an die Eltern, sondern auch umgekehrt. Wenn du von deiner Mutter lernst, dass man immer einen vollen Tagesplan haben muss und man nur genug ist, wenn man perfekt ist, hast du als Erwachsener eine ähnliche Erwartungshaltung an dich selbst. Der Leistungsdruck wird nicht nur von seitens des Vaters ausgeübt, sondern auch von der Mutter.
Es geht um dich!
Wenn du die Beziehung zu deiner Mutter hinterfragst, solltest du dir zunächst ein paar Fragen stellen und dazu in deine Kindheit zurückgehen. Überlege einmal, welches Mutterbild zu ihr passt. Wie viel Zeit hast du mit ihr verbracht? Hast du die Anerkennung bekommen, nach der du gestrebt hast? Wie ist ihr Erziehungsstil? Ist sie körperlich oder psychisch krank? Wie ist das Verhältnis deiner Mutter zu deinem Vater? Welche Werte hat sie dir mitgegeben?
Und egal, was du für dich in Lernaufgabe #9 herausfindest: Hinterfrage auch immer die Beweggründe deiner Mutter und lerne, ihr Dinge zu verzeihen. Und das ganz bewusst. Versuche auch deinen Frieden mit deiner Mutter zu schließen, sodass du deine Abhängigkeit von ihr lösen kannst. Indem du – auch, wenn ihr ein schwieriges Verhältnis hattet – verzeihst, kannst du es loslassen und deinen eigenen selbstständigen Weg gehen.
„Das Wichtigste, was sie über die Jahre gelernt hatte, war, dass es keine Möglichkeit gab, eine perfekte Mutter zu sein und eine Million Wege, um eine gute Mutter zu sein.“ Jill Churchill